Der Geist des Flüchtlingspfarrers im Gegenwind

Die Tagungsstätte «Sonneblick» im Appenzeller Walzenhausen will 80 bis 120 Asylsuchende aufnehmen. Sie hat eine grosse humanitäre Tradition, trotzdem sind viele Ortsansässige dagegen. Der Politologe Michael Hermann erklärt, warum religiöse Ideale in der Asylfrage wenig Überzeugungskraft haben.

 

«Der Geist von Flüchtlingspfarrer Paul Vogt wirkt weiter! Sein Sonneblick Walzenhausen wird, nach der Zeit des Zweiten Weltkrieges und des Ungarnaufstandes 1956, ab Januar 2017 wieder ein Zufluchtsort für Flüchtlinge.» So schreibt die Stiftung Sonneblick im März, die in Walzenhausen die einst von Paul Vogt gegründeten «Gästehäuser mit sozialer Zielsetzung» führt. Der Kanton Appenzell Ausserrhoden (AR) will in diesen Gebäuden ab Januar 2017 ein Durchgangszentrum für 80 bis maximal 120 Asylsuchende führen. Die Mietdauer soll acht bis zehn Jahre betragen.

 

Diese Pläne des Kantons stossen in Walzenhausen auf Widerstand. Anfang Mai lud der Kanton zu einem Infoanlass ein. Über 400 Personen erschienen in der Mehrzweckanlage des 2000-Seelen-Dorfes mit Blick über den Bodensee. «Wir streben ein gesundes Wachstum der Gemeinde an», sagte der parteilose Gemeindepräsident Hansruedi Bänziger auf die Frage, was der Gemeinderat zu den Plänen des Kantons meine. Er möchte steuerkräftige Zuzüger, die Bauland kaufen, nicht Asylsuchende. An der Wand hing ein Plakat mit der Aufschrift «Maximal 45 Personen für maximal 2 Jahre». 591 Personen hatten eine Protestpetition mit diesen Forderungen beim Kanton eingereicht.


Positiv erst im Rückblick

Der Sonneblick wurde 1933 als «Evangelisches Sozialheim» für Arbeitslosenkurse gegründet. Rund zehn Jahre später bauten einheimische Handwerker zusammen mit 71 Flüchtlingen ein zweites Sonneblick-Gebäude. Paul Vogt war in dieser Zeit Flüchtlingspfarrer des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) und bekam dafür den Ehrendoktor. «Flüchtlingsmutter» Gertrud Kurz ging ebenfalls im Sonneblick ein und aus. Auch Carl Lutz, der als «vergessener Held» 60’000 Juden aus Budapest rettet, war ein Walzenhauser.

 

In den letzten zwanzig Jahren hat sich der Sonneblick mit einem Angebot von Erholungsaufenthalten für Menschen am Rande der Gesellschaft etabliert. «Dass er nun ein Durchgangszentrum werden soll, ist eine Rückbesinnung, die der Not der Zeit gehorcht», so Adrian Keller, seit 1997 Sonneblick-Leiter.

 

Aber am Infoabend und in der Berichterstattung der regionalen Medien spielte diese Sonneblick-Tradition keine Rolle. Es ging um Zahlen, markige Voten von Gegnern, aber nicht um das positive Sonneblick-Image als Zufluchtsort. Warum argumentierte der Gemeindepräsident nicht damit? «Wir haben auf diese Tradition hingewiesen und sind uns sehr wohl bewusst, dass wir in der Flüchtlingsfrage eine zu Recht gerühmte Rolle gespielt haben», sagte Bänziger. Adrian Keller meinte: «Die sehr positive Bewertung der Aufnahme von Flüchtlingen ist wohl erst im Rückblick entstanden. Es dürfte auch einen Einfluss auf die Haltung der Bevölkerung gehabt haben, dass mit dem Blick über den Bodensee das Elend in den 1940er-Jahren direkt vor Augen stand. Heute ist die Not viel abstrakter.»


«Ideale haben wenig Gewicht»

Der Politologe Michael Hermann stellt die Frage, warum das humanitäre Argument nicht greift, in den Zusammenhang der nationalen Asyldiskussion. «Im Vergleich zu den Nachkriegsjahren ist die Zuwanderung auf der politischen Agenda heute ein viel grösseres Thema. Das bedeutet auch, dass der Appell an Ideale wie eine religiös motivierte humanitäre Tradition viel weniger Gewicht hat», sagt Hermann. «Heute sind die bekannten politischen Gräben zwischen konservativ und progressiv bestimmend bei Zuwanderungsfragen.» Auch die Funktion von Religion habe sich verändert. «Hinzu kommt, dass Religion heute viel stärker Privatsache als gesellschaftspolitische Kraft ist. Religion hat sich hier quasi entpolitisiert und der politische Alltag funktioniert weitgehend ohne religiösen Bezug.»

 

Das geschieht auch in Walzenhausen. Gemeindepräsident Bänziger ist im Sandwich von Ansprüchen des Dorfes, des Kantons und den Wachstumshoffnungen einer durchschnittlichen Ostschweizer Landgemeinde. Rechtlich hat er gegenüber dem Kanton keine direkte Handhabe, weder gegen den Ort der Platzierung der Flüchtlinge noch deren Anzahl. Trotzdem signalisierte er Verständnis für die Petitionäre – ein heikles Spiel. Warum tut er das? «Das ist richtig, es fehlt eine rechtliche Grundlage, sich gegen die Anzahl zu stemmen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir als Gemeinderat einfach zu den vom Kanton eingebrachten Zahlen nicken müssen.» Bänziger wies zudem darauf hin, dass Walzenhausen auch Offenheit zeige: «Die Petitionäre sind nicht per se gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, was der Bevölkerung an sich hoch anzurechnen ist.»


Hoffen auf Riggisberg

Ob der Kanton das Durchgangszentrum nach seinen Plänen eröffnet, zeigt sich in den kommenden Monaten. Zunächst wird der AR-Regierungsrat die Petition beantworten, woraus der eingeschlagene Kurs ablesbar sein dürfte. Kann der Sonneblick oder die Kirche etwas tun, dass das humanitäre Argument doch greift? «Eine ideelle Position hat heute für kurze Zeit in Notlagen eine gewisse Überzeugungskraft. Das war beispielsweise sichtbar bei der Flüchtlingsankunft in München im letzten Jahr und der damit einhergehenden Willkommenskultur», sagt Michael Hermann.

 

Adrian Keller hofft auf Ähnliches wie in der bernischen Gemeinde Riggisberg. In dem Dorf mit 2500 Einwohnern waren 150 Flüchtlinge untergebracht, das sind vergleichbare Verhältnisse wie in Walzenhausen. Dort hatte der SVP-Gemeindepräsident gesagt: «Die Flüchtlinge haben dem Dorf gut getan.»

 

ref.ch/Daniel Klingenberg, 17. Mai 2016